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Marco Balzano: Ich bleibe hier 

 

Dem Autor ist es gelungen, ein eindringliches Bewusstsein für die Tragik einer Touri-Attraktion zu schaffen, die seit Jahren manchmal unbedarft genutzt wird:

Beim Überqueren des Reschen-Passes zu den Feriengebieten Südtirols, kann der Urlauber sich in Foto-Pose setzen, als   Hintergrund der aus dem Wasser herausragende Kirchturm des Dörfchens Graun, das 1950 geflutet wurde, zugunsten eines Stausees.

Seite 93 „Ich werde dir berichten, was sich in Graun abgespielt hat, an dem Ort, den es nicht mehr gibt“.

 

 

3 Erzählstränge: Familie 

                               Politik

                               Umweltprobleme

 

Die Ich-Erzählerin Trina, beschreibt ihr Leben und Schicksal als Südtirolerin von den 20er Jahren bis in die 50er, teilweise in Briefform an ihre verschollene Tochter, mit deren Verlust sie nie abschließen konnte.

Trina macht im Frühjahr 1923 die Reifeprüfung und erhält nach ihrer Ausbildung das Lehrerinnendiplom.  Sie ist mit ganzem Herzen Bergbäuerin, aber auch Pädagogin, wissbegierig und nachdenklich. „ich glaubte sie können mich retten, die Wörter“.

Sie und ihr Mann Erich stehen im Mittelpunkt der Familiengeschichte. Er ist „der einzige Mann, der ihr je gefallen hat“, geradlinig, kraftvoll, ebenso heimatverbunden wie sie.

Die Umstände zwingen die Familie doppelt leidgeprüft in den Widerstand; erst gegen die diktatorische Regierung Mussolini, dann gegen die Stausee- Pläne, die ihr Dorf vernichtet.

Trina und Erich bekommen 2 Kinder, Michael, der bodenständig ist und den Bauernhof übernehmen möchte. Er entwickelt sich zum kriegsbegeisterten Hitler-Anhänger.

Marica, die verlorene Tochter, 4 Jahre jünger, verschwindet ohne Abschied mit Tante (Schwester des Vaters) und Onkel.

 

Wie hat es uns gefallen:

Sehr bewegend und flüssig zu lesen, die Geschichte einer ganzen

Region, deren Menschen sich heute noch, wie viele aus Gesprächen zu berichten, als autonome Südtiroler und nicht als „eingebürgerte Italiener“ verstehen“.

 

Was hat uns gefallen:

Es ist ein „leises“ Buch, das gerade deswegen unter die Haut geht. Die Sätze passen zu den Gegebenheiten, den Lebensbereich, dem sozialen Umfeld der Bergbauern. Sie sind kurz und prägnant.

Seite 271 „Als sie den Sprengstoff in den Häusern deponierten, waren wir schon in die Baracken gepfercht.“ Es bedarf keiner zusätzlichen Adjektive, um das Grauen, die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die damit verbunden sind deutlich zu machen.

 

Besonders berührt hat uns:

  • die Trauer und Resignation Trinas und Erichs, über den Verlust der Tochter. Erich zeichnet in einem Heft Marica aus der Erinnerung.

Seite 149: „Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlüpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefühlt.“

 

  • Als Trina und Erich nach dem Sturz Mussolinis 1943 fliehen müssen mit Deserteuren und Partisanen für mehr als 1 Jahr in das eisige Hochgebirge mit unglaublichen Entbehrungen.

  • Die Zwangs-Evakuierung Seite 263: „Die Männer trugen die Matratzen auf dem Rücken, die Frauen hielten die Kinder auf dem Arm und bemühten sich, geradeaus auf den Horizont zu schauen, der an diesem Tag hell und klar war.(….)…gingen alle in einer Reihe, mit dem langsamen Schritt der Verurteilten, unter den ausdruckslosen Augen der aufmarschierten Carabinieri.“

  • Als die Felder bereits überflutet waren, beschließt Erich die Kälber, Kühe und Schafe zum Schlachter bringen, und bezahlt dazu für den Hund, Seite 272: „Nimm ihn auch noch, sagte Erich und deutete auf Fleck. Der Metzger sah ihn stumm an.“  

 

»Die einzige Möglichkeit weiterzuleben ist vielleicht, sich zu verändern und nicht zu erstarren. An manchen Tagen bereue ich es, doch es geht mir schon mein ganzes Leben so: Plötzlich muss ich mich von Dingen befreien, sie verbrennen, sie zerreißen, sie von mir wegschieben. Ich glaube, das ist mein Mittel, um nicht wahnsinnig zu werden.“

 

Wir diskutierten:

  • Was waren die Beweggründe für Schwager Lorenz und Schwägerin, Erichs Schwester Anita, die Marica mit sich nahmen? 1936 kamen sie ins Dorf, bis1939 aus unklaren Gründen.-  In der Gruppe wird vermutet, dass aufgrund des Fehlens eigener Kinder diese so ein Adoptivkind zu erhielten. So konnten sie die Ablehnung von Trina und Erich umgehen.

 

  • Der Abschiedsbrief, den Trina Wochen später erhält, trägt keinen Poststempel, wie fand er den Weg zu Trina und Erich?

 

 

  • Warum gab es kein weiteres Lebenszeichen von Marica? - Wir nehmen an, dass sie die Kriegszeiten auf die eine oder andere Art nicht überlebt hat. Schwägerin und Schwager tauchen ebenfalls im Roman nicht mehr auf, vielleicht derselben Ursache geschuldet.

 

  • Warum hat der Mann mit Hut (Staudamm) oder die dicke Frau (im eisigen Hochgebirge) keinen Namen?

 

Wir sprachen über:

Das Instrument der Machtpolitik über Sprache:

Den Identitätsverlust: kein Deutsch mehr in den Klassenzimmern, der Amtssprache.

Auf dem Friedhof mussten selbst die Gräber umbenannt, auf Italienisch benamt, gekennzeichnet werden.

Seite 131 „Die Sprachen waren zu Rassenmerkmalen geworden. Die Diktatoren hatten sie in Waffen und Kriegserklärungen verwandelt.“

 

Umwelt und Kommerz:

Vergewaltigte Natur, Vergleich mit Sotschi, schwarzes Meer, hier entstanden Wintersportanlagen für Olympiade 2014.

 

 

 

Fazit:

Ein sehr bewegender, zu Herzen gehender Roman. Unbedingt lesen!!

 

Der Mut der Verzweiflung:

Der Autor schließt den Roman mit: „Vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegt, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist. Sonst hätte Gott uns die Augen seitlich gemacht, wie den Fischen. „

 

 

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