Francesca Melandri: Eva schläft
Wie hat es uns gefallen:
Die Autorin verpackt die Geschichte Südtirols geschickt in einen fiktiven Generationenroman. Die historischen Kontexte sind atmosphärisch dicht verflochten.
Es beginnt 1919 mit dem Großvater Hermann der als 11-jähriger Waise wird, weil seine Eltern Ende des 1. Weltkriegs an der Spanischen Grippe sterben. Als jüngerer Sohn kann er den Hof nicht erben, sondern muss sich als Knecht in Deutschland verdingen. Die Folgen des 1. Weltkriegs, die er erlebt und die turbulenten Umbrüche in seiner Region lassen ihn zum Faschisten und später zum Nazi werden. Wir erleben die Diskriminierungen seiner Tochter Gerda, die wiederum mit 16 Jahren als Küchenmädchen in ein Kurhotel weggegeben wurde. Eineinhalb Jahre später ist sie schwanger, der künftige Vater heiratet sie nicht. Er ist der Sohn eines Freundes von Hermann, der in die Familie eines Textilfabrikanten eingeheiratet hat, Hannes. Sie versucht in ihrer Not und Verzweiflung die Schwangerschaft abzubrechen, mit grausamen Versuchen an sich.
Es folgt der Verlust des Elternhauses für Gerda, (ihre Mutter erleidet bei ihrem Besuch einen tödlichen Herzinfarkt, ihr Vater wirft sie daraufhin hochschwanger aus dem Haus. Eva wird bei Nonnen geboren, einem nationalen Hilfswerk in Bozen Seite 126 „Wer hier eintrat, tat das nicht aus freien Stücken, sondern weil ihm keine andere Wahl blieb“. Die ersten Monate verbringt das Neugeborene in einer Apfelkiste versteckt im Hotelbetrieb, später muss Gerda Eva zu Pflegeeltern geben und sieht sie nur noch 2 Monate im Jahr.
Was hat uns gefallen:
Während der Zugfahrt von Eva, inzwischen 40jährig, entspinnt sich in Zeitsprüngen die Tragik der Familie über Generationen, in den Zeiten des Südtiroler Freiheitskampfs, als Reaktion auf faschistische Integrationspolitik. Der Zug soll Eva zu der einzigen Vaterfigur (Vito) bringen, die sie jemals hatte, und sie unerwartet wieder verließ. Vito liegt im Sterben. Die Zugreise führt 1400 km quer durchs Land und durch 70 Jahre der jüngeren italienischen Geschichte, während Eva ihre Erinnerungen, familiäre Verluste und zwischenmenschliche Verletzungen reflektiert.
Die Spezialität der Autorin sind eindrückliche, oft kleine Szenen und Bilder, die die Kraft haben, für das ganze Ausmaß einer Situation zu stehen.
Szene Seite 138, als Hannes fragt, ob er sein Kind sehen kann: „Die Schwester Pförtnerin presste das Kinn gegen die Brust und schaute ihn von unten herauf an. „Ja, wenn du ihr deinen Nachnamen gibst.“
Szene S. 274 als die alte Frau, die 4 Söhne verlor und kein Grab zum Beweinen hat, an den Särgen von 4 Alpinis, Sprengstoffopfer steht: „Sanft fuhr sie mit der Hand über jeden einzelnen Sarg…(..) mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor hatte der Krieg der Frau alle vier Söhne genommen, die ungefähr das Alter der vier Gebirgsjäger in den geschlossenen Särgen hatten.“
Szene S. 395 als beim Angebot Hannes zum Beischlaf Gerda den Kochlöffel schwingt, und er noch Glück gehabt hat. S.395 „Gerda zielte und schleuderte dem Vater ihrer Tochter den Kochlöffel ins Gesicht.“ – zuvor hatte sie mit einem Hackebeil eine Rinderschulter entbeint ..😉
Lieblingsfiguren:
Die zentrale Figur und Protagonistin des Werks ist für uns Gerda, die Mutter Eva’s. - Der Charakter Eva‘s wurde nicht so herausgearbeitet, ist schwächer gezeichnet und ergeht sich hauptsächlich in absoluter Bewunderung ihrer Mutter.
Sehr beeindruckend ist Vito mit seiner Fürsorge um die ihm anvertrauten Soldaten, obwohl er nur wenige Jahre älter ist und seinem starken Gerechtigkeitssinn, gegenüber der Südtiroler Bevölkerung.
Eine Lieblingsstelle der feinen Ironie:
Seite 84: „Paul“ (Vater von Hannes, dem „Erzeuger von Eva)“ hatte die Erstgeborene einer wohlhabenden Familie von Textilfabrikanten geheiratet. Seine 4 Töchter waren in der Schweiz erzogen worden, fernab von diesem Tal mit seiner kargen, bäuerlichen Lebensweise. Schließlich galt es ihren Sinn für das Unwesentliche zu verfeinern, damit sie später auch Zugang zu den gutbürgerlichen Kreisen erhielten“.
Ereignisse, die uns besonders erschüttert und berührend haben:
Oft ist die Empathielosigkeit der Charaktere erschreckend.
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Seite 264 : Das Verwandtschaftsverhältnis: „Der da ist dein Opa.“….. „So lernte Eva, was ein Opa war: ein alter, ausgemergelter Mann, bei dem man, wenn er einen ansah so traurig wurde, dass man gar nicht mehr leben wollte“.
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Darstellung der elterlichen Macht durch die traditionelle Rollenverteilung in den 60er Jahren
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Gerda wird einfach ins Kurhotel gegeben;
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Vito findet kein Verständnis von seiner Mutter, sie will nicht, dass er Gerda heiratet, die Schwester eines Terroristen, ledig mit Kind
Darüber hinaus politische Rahmenbedingungen die persönliche Bindungen belasten: Eine Unmöglichkeit, dass Gerda und der Carabinieri Vito eine Familie werden können – Vito ist italienischer Staatsbediensteter.
Leidensweg wegen Homosexualität: Eva‘s Cousin und bester Freund Uli outet sich, mit der Folge, dass er sich das Leben nimmt.
Zitate:
„Mein Reisepass ist italienisch, meine Sprache Deutsch, meine Heimat ist der südliche Teil Tirols, dessen übrige Teile, Nord- und Osttirol, allerdings in Österreich liegen. Für uns heißt dieser Teil Südtirol, doch im Italienischen sag man ‚Alto Adige’ oberes Etschland, denn das ist ja der eigentliche Unterschied: Entscheidend war immer, von wo aus man das Land betrachtet, von oben oder von unten.“
Was uns gestört hat, kritisiert wurde:
Die überzeichnete überschwängliche Schilderung der Schönheit Gerdas, vielleicht eine ironische Beschreibung, die der heißblütigen südländischen männlichen heterosexuelle Perspektive auf die Frau geschuldet ist.
Beim Schluss des Romans wurde das rasche plötzliche Verzeihen Evas gegenüber Gerda angezweifelt.
Vergleich:
mit Balzanos „Ich bleibe hier“ der Thematik wegen:
Beide Romane spiegeln die Verwerfungen und Umbrüche in Südtirol wider – insbesondere die Assimilisierungs-Politik, sie Umsiedlungen und den Widerstand der Bevölkerung.
Verbot des Deutschunterrichts, Zwang zur italienischen Sprache im Alltag, Katakomben Schule als Widerstand
Fazit:
Zusammengefasst will Francesca Melandri mit ihrem Werk und ihren Aussagen vor allem dazu anregen, Geschichte nicht zu vergessen, sich mit der eigenen Identität kritisch auseinanderzusetzen, Empathie in den Mittelpunkt zu stellen und individuelle Verantwortung für Gesellschaft und Frieden zu übernehmen.