Dagmar Schifferli: Wegen Wersai
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Wie hat es uns gefallen:
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Der Roman spielt in der Schweiz der 60er Jahre . Autoritäre gesellschaftliche Normen, gutbürgerliches Milieu und streng gehütete Familiengeheimnisse prägen das Umfeld.
Zentrale Themen sind Trauma, Scham und Schuld. Der Erzählduktus bleibt konstant, es gibt keinen Erzählerwechsel; die Handlung folgt einem durchgehenden, chronologischen Verlauf.
Es ist ein leises Buch, das das Innenleben von Katharina, der 12jährigen ehrlich und eindrücklich beschreibt. Belastet durch die schwere Krankheit ihrer Mutter, lebt sie in angespannten familiären Verhältnissen bei einer Pflegefrau, der ältere Bruder ist im Internat. Ein einsames Kind, das in einer Welt der Erwachsenen, klug, kritisch denkend, sensibel und rebellisch, seine Beobachtungen zu verstehen sucht. Die Pflegemutter (Tantelotte) kämpft mit ihren eigenen Traumata-Dämonen, versucht sich mit repressiven Erziehungsmethoden.
Die Ohnmacht, die Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration, die wir schon des Öfteren in anderen Werken besprochen haben, wirkt sich hier auf die familiäre Situation Katharinas aus. Die Erwachsenen, obwohl potenzielle Zeugen, sind keine verlässlichen Zeugen, Katharina fehlen offene bzw. verständliche Erklärungen zu gesellschaftlichen und familiären Ereignissen. Ein Feld von Unehrlichkeit und dem Verschweigen von Wahrheiten.
Was hat uns gefallen:
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Ob es um Krieg, Nachkriegszeit, Vergangenheitsbewältigung oder Fremdenhass geht, der Ton der Erzählung ist konsequent aus der Perspektive des Kindes.
Die Angst vor Überfremdung, ist als transnationales Thema geschickt eingeflochten.
Alle Charaktere sind plastisch und glaubwürdig porträtiert.
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Die Pflegemutter Tantelotte, die emotional distanziert und kompromisslos wirkt. Sie steht für eine Generation, die von den Entbehrungen und Traumata der Kriegsjahre geprägt ist, was sich in ihrer Strenge und Härte gegenüber dem Kind widerspiegelt:
Zwang zur Anpassung, strikte Regeln, unerfüllte Antworten.
Ergebnis: Katharina „strickt“ sich ihre eigene Welt inklusive passender Erklärungen.
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Mutter Dora:, von ihrer Krankheit (MS) gezeichnet, ist bemüht, so wenig „Umstände“ wie möglich zu machen –
Seite 61 „wenn bei uns etwas Schlimmes passiert, ist immer jemand schuld. deshalb strengt sich Mama so sehr an, dass sie nicht schuld ist“.
In ihrer Liebe, Fürsorge und Verbundenheit ist sich Katharina der Fragilität des familiären Zusammenhangs bewusst.
Seite 37 „Mama lächelt nicht immer, in letzter Zeit sogar immer seltener.“
Seite 75 „Ich glaube Mama vermisst Tommy manchmal. Ich sehe das an ihrem Gesicht.. „
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Vater Walter, "der Bibel-feste": in Szene Seite 71- 74 die Bibel und die Ausländer 😉 ..die Flucht aus Ägypten:
„Ja, sagte Papa, wir sind katholische Christen. Es gehört sich einfach, dass man sich in der biblischen Geschichte auskennt. …(…)… Sechshunderttausend Männer - genau die Anzahl Ausländer, die momentan in der Schweiz sind, …(…)…wir würden sie nicht verfolgen, sondern ziehen lassen, ist ja klar, fügte Papa mit einem komischen Lachen hinzu. Wir würden sie ziehen lassen und wären froh darüber- sehr froh sogar“.
Seite 55: „Die Männer arbeiten, die Frauen sind zuhause. Ein Naturgesetz.“
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Tante Lucille, die Schwester von K. Mutter und ihre Patin, die öfter aus ihrem Leben ausbricht, weil sie die Borniertheit der Familie nicht erträgt. Katharina gegenüber ist sie verständnisvoll und versucht ihr das komplexe Thema Versailles und seine Auswirkungen zu erklären.
Gestört hat uns bzw. diskutiert wurde:
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Teilweise wird das Buch als aneinandergereihte Begebenheiten wahrgenommen, sozusagen „Spotlight Methode“.
Gestört hat das plötzliche und offene Ende des Buchs.
Lieblingsfigur:
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Als unsere Sympathiefigur wird Katharinas Lehrerin Frau Simonis ausgezeichnet, die in festgefahrenen Zeiten Ihre Autonomie bewahrt.
Als moralische Instanz und kritische Lehrerin, engagiert und verantwortungsbewusst, tritt sie Ignoranz und Fremdenfeindlichkeit mutig entgegen.
Szene Seite 83/84: In einem verschlossenen Brief des Vaters, den K. überbringen muss, steht die Aufforderung, dass Katharina von ihrem Bank-Kamerad und Freund Lorenzo zu trennen ist. Sie sagt: „Richte bitte deinem Vater aus, dass in diesem Raum, ich meine, hier im Schulzimmer, noch immer ich bestimme. Auch am Montag wirst du wieder neben Lorenzo sitzen.“
Am meisten berührt:
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Schmerzhaft zu lesen ist die Verzweiflung des Kindes, das der Mutter im Krankenhaus keinen Abschied mehr schenken konnte – und der nagende Schmerz, ihr nicht mehr Liebe und Schönes erwiesen zu haben.“ Seite 157
Besonders berührt die Schutzlosigkeit des Kindes in einer Welt ohne Antworten auf seine brennenden Fragen.
Zeitgeist:
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Themen die exemplarisch für den Zeitgeist der 60er stehen, werden angedeutet und ins Bewusstsein gerückt:
Die Expo 1965 in München, die Eröffnung des St. Bernhard Tunnels 1964 ,
Der Gletschersturz bei Mattmark im Wallis 1965 bei dem 88 vorwiegend aus Italien stammende Bauarbeiter unter 500 000 m³ Eis begraben ihren Tod fanden.
die Frankfurter NS-Prozesse von 1963 -1965 (Strafprozesse gegen Mitglieder des Auschwitz-Personals)
Die Teilnehmerinnen zeigten sich betroffen, über die Schweizer Vergangenheit, der Antisemitismus, der im Buch offen und kritisch behandelt wird.
Szene zur Tatsache der Konzentrationslager im Kanton Zürich Seite 151:
„Was rief Mama, so nah von uns damals! Wieso haben wir das nie erfahren? Man wollte es nicht wissen, sagte nun mein Onkel Ernst ..(..).. wie vieles andere auch.“
Fazit:
Wir würden es nicht verschenken, aber durchaus empfehlen
Eure Kinder sind nicht eure Kinder
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern. Khalil Gibran
