Daniel Glattauer: Die spürst du nicht
Da der Klappentext recht knapp gehalten ist, vermutlich um neugierig zu machen, hier ein wenig ausführlichere Informationen zum Inhalt:
Der Autor hat seine Charaktere in einer bühnenhaften Konstellation aufgestellt, und da sind sie, die „Bobos“ 😉bestehend aus:
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der Familie eines bekannten niederösterreichischen Winzers Engelbert Binder, mit Ehefrau Melanie, die Kultur-Management studierte, von einer Schauspielkarriere träumte und Sohn Benjamin, als „pflegeleicht“ wahrgenommen, 9 Jahre alt
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den Strobl-Marineks , Oskar Marinek, Ende 40, besserwisserisch, gescheiterter Professor in Wien, nun Lektor für wenig herausfordernde Forschungsprojekte, sowie seine Frau Elisa Strobl-Marinek, 10 Jahre jünger, Umweltaktivistin, studierte Ökologie und Nachhaltigkeit. Sie sitzt im Nationalrat und will für ein Ministeramt kandidieren. Sie haben die Kinder Sophie Luise 14, und Lotte 9 Jahre,
beide Familien gönnen sich einen Premium-Urlaub in der Toskana, bei dem die Teenie-Tochter Sophie- Luise, genannt So-Lu, gegen evtl. aufkommendes Netflix-Überdosis-Syndrom ihre somalische Schulfreundin Aayana, ein Flüchtlingskind, mitnehmen darf.
Aayanas Familie Ahmed ist zunächst gegen die Reise ihrer Tochter, lässt sich aber dann doch überreden. Gleich am ersten Abend ertrinkt Aayana im Pool der Villa. Und im Netz geht es ab...
Wie hat es uns gefallen:
Genau die Intension, die Glattauer mit diesem Roman nach eigenen Aussagen in einem Interview verfolgt, ist eingetroffen:
Wir hatten eine lebhafte Debatte über die arrogante Moral der Wohlstandsgesellschaft und ihren Überlegenheitskomplex. In einer Zeit des Medienüberflusses und eines allgegenwärtigen Berichterstattungskults wird unsere Wahrnehmung zunehmend von der Inszenierung des Geschehens statt von der Realität selbst geprägt.
Was hat uns gefallen:
Der Roman wird in chronologischer Abfolge komplett in der Gegenwart erzählt, was eine gewisse Sogwirkung für die Lesenden mit sich bringt. In die fortlaufende Handlung werden die entsprechenden Pressetexte und Social-Media-Kommentare auf die Geschehnisse eingebunden.
Es wurde diskutiert, dass im Roman lange Strecken nur die Perspektiven der "Upper-Class" gezeigt werden.
Die Geschichte der Ahmeds, ihr Leidensweg, wird erst Seite 273 erzählt.
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Teilweise wurde die Geschichte als zu konstruiert empfunden, wobei wir zugestehen, dass Satire entsprechend überzeichnen, übermalen darf.
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Das muslimische Frauenbild Seite 27/28: „Wir sind hier nicht mehr im Mittelalter, lieber Herr Dozent“ rügt ihn Melanie. Wir nicht, erwidert Oskar. Aber hier ist sie bei uns sagt Elisa. Bei uns gelten eben unsere Werte, für die wir Frauen jahrzehntelang hart gekämpft haben..,. Es ist unsere Pflicht, sie weiterzuverbreiten.
Bei uns zu sein heißt noch lange nicht, zu uns gehören oder gar uns zu gehören", kontert Oskar.
Zitate
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Mediale Empörung
Medien-Threat Seite 146: „Das im Artikel beschriebene Unglück berührt uns nicht, es ist zu weit weg von uns. Es ist nur eine pikante Story, in der wir die Guten sind.“
„Im Netz regen wir uns liebevoll über Dinge auf, die uns in Wirklichkeit völlig egal sind.“
„Empörung ist die neue Unterhaltung“
Arroganz paart sich mit Empathielosigkeit:
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Seite 15 „Sie spricht auch schon sehr gut Deutsch, lobt Melanie, zumindest DANKE kann sie gut…
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Seite 119 Besuch bei Familie Ahmed: „Befreiender wäre es, sie würden um eine kleine finanzielle Unterstützung bitten, wegen der überfälligen Begräbniskosten, etc…“
Ein Genuss für Sprachliebhaber: Seine Wortspiele spüren den verborgenen Sinn hinter jedem Wort auf.:
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Seite 64: „Mama bist du krank? – Was für eine absurde Frage! Mama kann nicht kranksein, das hat es noch nie gegeben, das hätte ihr Job nie zugelassen und Lotte erst recht nicht. Manchmal kränkelt sie vielleicht, das heißt sie tut so, als ob sie krank werden könnte, und wie es wäre, wenn. Manchmal ist sie gekränkt, das geht meistens auf Papa zurück und verschwindet so schnell, wie es gekommen ist. Manchmal ist sie auch krankhaft, z.b. krankhaft wütend, da haftet ihr etwas Krankes an..(…) Nein, krank ist Mama nie gewesen. “
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Seite 164/65: Es geht also bestimmt nicht um die Befindlichkeiten Engelberts und Oskars, sonst hätten sich die zwei Männer nie getroffen. Beide sind aber nicht nur glühende Verfechter der befindlichkeitsfernen Unverbindlichkeit, sondern auch begnadete Verweigerer der persönlichen Verstrickung in unangenehme bis prekäre Lebenslagen.
..und da wäre noch die Sache mit der Wahrheit…:
Seite 71 Anwalt Steinbichler: "Die Wahrheit ist ein Chamäleon, sie wechselt die Farbe mit dem Blickwinkel des Betrachters (….) diesem Umstand verdanke ich meinen Beruf."
Seite 141: "Die Wahrheit ist ein Pfau, sie hat ein facettenreiches buntes Gefieder. Wir werden uns schon die passenden Federn herauspicken, verlassen sie sich auf mich". Anwalt Steinpichler bei der Besprechung mit seinen Mandanten.
Besonders beeindruckend:
Berührt hat das Plädoyer des Klagevertreters von Familie Ahmed Seite 67 :
„Es sind Fremde. Fremdlinge, Flüchtlinge. Die leben in ihrer Welt. Gehören nicht zu uns. Haben nichts mit uns zu tun. Haben ihre Vorgeschichte, die sie schicksalhaft hierhergebracht hat.(…..) sie haben auch ihre Geschichte, so wie wir alle, Ja, wir alle haben unsere Lebensgeschichte, die beginnt mit der Geburt und endet erst mit dem Tod. Es liegt an uns, wie viel wir davon zwischendurch preisgeben.“
Zum Buchtitel:
Seite 15: „Das ist ja wirklich eine Süße, und so brav, die spürst du nicht.“ Meinte Engelbert.
Seite 123: Als Aayanas Familie weggezogen, nicht auffindbar ist: „Bei denen war es nie laut, obwohl Neger an sich laut sind. Die hat man nicht gespürt.“
Fazit:
Selbstironie und spöttischer Humor, zynisch und traurig. Der Autor mit dem Wiener Schmäh“ wirft einen tiefgründigen Blick auf zwischenmenschlichen Beziehungen sowie gesellschaftliche Zustände. Man kann sie spüren....
